Viele Facetten
Vor zwei Wochen habe ich das letzte Mal geschrieben, und sehr viel hat sich nicht verändert.
Ich glaube, die Abstände zwischen den eher bedrückenden Momenten werden länger. Manchmal will ich mich gar nicht gerne hineinbegeben und bleibe – innerlich in meinen Gedanken und äußerlich mit dem, was ich sage – bei meinen gewohnten Formulierungen. Gut, dass es für viele Facetten solche (einigermaßen) fertig gedachten Gedanken gibt, die ich hervorholen kann.
Apropos Facetten. Mir fällt auf, wie facettenreich meine Gedanken über Jan sind. Ich will diese Facetten hier einfach mal ansprechen (müsste es nicht "anschreiben" heißen?), mal schauen, was alles dabei herauskommt.
Manchmal gehen die Gedanken weit zurück. Die Kindheit bis zum Ende der Grundschule war in vieler Hinsicht positiv. Seine Fähigkeiten und Begabungen, sie Wissensdurst und seine besonderen Interessen haben uns viel Gesprächsstoff geliefert. Ein paar Besonderheiten, die wir im Nachhinein dem Asperger zuordnen, fielen da nicht besonders ins Gewicht. Die Zukunft war zwar ungewiss, aber voller Hoffnung.
Die Zeit von 10 bis vielleicht 17 Jahren war durchwachsen. Seine besonderen Interessen (und willensstark geäußerten Nicht-Interessen) und seine Schwierigkeiten, sich an Regeln oder Systeme anzupassen, machten es häufig schwer. Auch ihm, denn er hat sich schon viel angepasst, musste aber immer wieder erleben, dass es nicht reichte. Wir anderen konnten das so nicht sehen und erwarteten mehr. In der Familie blieb vieles herausfordernd; trotzdem schafften wir es, eine überwiegende Atmosphäre von Annahme zu erringen, die unsere Beziehungen im Kern zusammengehalten hat. Darüber bin ich sehr froh. Ich würde sonst mit viel mehr Wehmut auf diese Zeit zurückblicken und diese Zeit als verlorene Schlacht empfinden; aber das ist sie nicht. Die kleine Band, die ich mit Jan, Tom und Jonas gebildet habe, hat über einige Jahre bestanden und gerade auch Jan Erfolgserlebnisse ermöglicht, da er seine musikalische Begabung ausbilden und präsentieren konnte. Schön auch, dass Jan im Alter von 16/17 Jahren in der Oberstufe etwas aufblühte. Er bekam ein paar Kontakte, die Wahlfächer lagen ihm insgesamt besser, er fuhr auf Jugendfreizeiten und Kursfahrten und kam begeistert zurück. Auch die Diagnose Asperger schien ihm Anfangs ein besseres Selbst-Verständnis zu ermöglichen. Seinen Zeitungs-Job hielt über mehrere Jahre durch, wenn auch mit Einbrüchen. Vor dem Abi kam er sogar mit einer netten Freundin zusammen, mit der er schöne und intensive Zeiten erlebte. Bei allen Schwierigkeiten blieb auch eine Begründete Hoffnung, dass er seinen Weg finden könnte.
In der Zeit vor dem Abi verdunkelte sich die Szene langsam und unmerklich. Den Job gab er ab, er konnte häufiger nicht zur Schule gehen, die Motivation zu Anpassung und Anstrengung versiegte nach und nach. Mit Hilfe und Unterstützung ging immer mal wieder was. Die Schule ermöglichte ihm mit viel Entgegenkommen, die formalen Hürden zur Abi-Zulassung zu überwinden. Sogar die Prüfungen hat er am Ende gemacht und geschafft. Im Nachhinein sehe ich aber, dass er durch das letzte halbe Jahr eigentlich von außen hindurchgeschleppt wurde. Irgendwie gut, denn so stand ihm jetzt oder in Zukunft grundsätzlich alles offen, jedes Studium. Ohne Abi hätte es hoffnungslos ausgesehen, wie ein weit überdurchschnittlich intelligenter Mensch mit Anpassungsschwierigkeiten eine angemessene Ausbildung hätte finden sollen. Die Idee, zuerst eine Ausbildung als Programmierer zu beginnen, schien gut zu seiner Situation zu passen. Eine konkrete Studienrichtung und überhaupt das Meistern eines selbständigen Studiums hätte dann später entschieden werden können. Aber nach einer Woche war es vorbei. Jeden Tag lange arbeiten war schwierig, aber die Berufsschule triggerte endgültig den Durchbruch der Depression. Der Wille zur Anstrengung und der Blick für den Sinn verschwanden immer weiter. Die Krankschreibung des Arztes war seine einzige Rettung, und selbst diese Termine konnte er kaum mehr wahrnehmen. Er zog sich immer mehr zurück, das Bett wurde zu seinem Hauptwohnsitz, der Computerstuhl zum Zweitwohnsitz. Die Freundschaft zerbrach. Von außen war er nicht mehr wirklich zu erreichen. Schwere Depression. Er bekam Medikamente, die die Stimmung etwas verbesserten, immerhin konnte er jetzt immer wieder mal aufstehen. Aber der Antrieb zu was auch immer war verschwunden. Und damit auch alle konkrete Hoffnung. Aber Eltern sind die, die die Hoffnung nicht aufgeben dürfen.
Die folgenden drei Jahre jonglierten wir diese Hoffnung wie ein rohes Ei. Jeder noch so kleine Schritt nährte diese Hoffnung, die Schritte rückwärts schienen aber manchmal größer. Die Hoffnung wurde angepasst an das Erwartbare. Wenn schon nicht ein "normaler" Beruf, dann wenigstens etwas freigeistiges, das ihm ein wenig Einkommen ermöglicht. Wenn auch das nicht mehr möglich erscheint, wenigstens ein zufriedenes Leben, das zu ihm passt, wenn auch nur im finanziellen Rahmen von Sozialleistungen, Hauptsache er blieb sozial angemessen eingebunden. Selbst das blieb am Ende immer noch unsicher. Die einzige Sicherheit für ihn war Teresa. Er selbst blieb sehr auf der Suche, hatte sich mangels inneren Erlebens vom Glauben abgewandt und suchte nach der Wahrheit im Internet. Die Bibel wurde von ca. 40 Menschen aufgeschrieben, von Gottes Geist zu einem Werk zusammengestellt, aber ohne Gott funktionierte sie für Jan nicht mehr – nachvollziehbar. Aber woran orientiert man sich im Internet? Für uns ergab sich auch hier mehr Grund zu Sorge als zu Hoffnung, also musste noch ein Stück Hoffnung neu errungen werden: dass Gott doch noch erkennbar werden würde für Jan.
Am 21. November 2018 erreichte uns die Todesnachricht.
Eine Facette: Unser Sohn ist tot, der intensive gemeinsame Lebensweg abgeschnitten. Unumkehrbar.
Eine weitere Facette: Alle schwer errungene Hoffnung, all die Herzensarbeit, die wir geleistet haben all die Jahre, kann nicht mehr Wirklichkeit werden. Gestorbene Hoffnung.
Aber auch: Alle Sorgen, die wir immer wieder erlebten, dann aber auch abgeben dürften und mussten, denen immer wieder mit neuer Hoffnung begegnet werden musste, müssen nicht mehr sein. Es passiert nichts mehr, es können keine Katastrophen eintreten. Die eine Katastrophe ist zwar riesig, aber eben auch endgültig. Verflüchtigende Sorgen.
Wiederum: Die Last dieser vergangenen Sorgen liegt mir noch auf der Seele. Vollständiges Abgeben, vollständiger Friede war nicht eingetreten, zumindest nicht immer. Die herzzerreißende Arbeit, den Sorgen immer wieder mit Hoffnung zu begegnen, hat ihre Spuren hinterlassen. Das darf jetzt heilen, ich glaube aber, es wird dauern. Aber es tut hierbei gut, immer wieder zum Heute zurückzukommen: Die Sorgen sind vorbei!
Eine ganz wichtige Facette aber ist die, die mir in den dunklen Zeiten der letzten Wochen immer wieder eine neue, starke Hoffnung geschenkt hat: Jan ist bei Gott! Er ist nur vorausgegangen. Wir sehen uns wieder. Ihm geht es jetzt schon gut. Das ist doch die Hauptsache. Das entfernt nicht die menschliche Trauer und den Verlust. Aber für Jan dreht es die Sicht vom (irdischen) Tod zum (himmlischen) Leben, und für mich nimmt es der Endgültigkeit die Macht. Es ist nur ein Abschied auf Zeit!