...und es gibt auch die andere Seite
Arne Kopfermann beschreibt in einem Kapitel seine Tochter. Die begeisterte, natürlich gewachsene Liebe zu ihr strahlt zwischen den Worten hervor.
Es tut gut, im letzten Blog-Eintrag Jans Charakter und seine Stärken zu beschreiben. Aus dem Erleben der letzten Jahre stehen für mich dagegen aber auch viele Herausforderungen, Ärgernisse und Sorgen. Ist es richtig, auch das hier auszubreiten? Sollte posthum nicht das Schöne übrigbleiben? Doch dieser Blog ist in erster Linie für mich, und in meiner Verarbeitung hat diese schwere Seite eine große Bedeutung, gerade weil die letzten Jahre stark davon geprägt waren. Ich selbst möchte auf Dauer beides zusammen betrachten können. Es gab den einen Jan, und ich möchte ein stimmiges, umfassendes Bild von ihm in mir entwickeln. Ich hätte nicht gedacht, dass das so kompliziert werden würde.
Leider war meine Liebe zu Jan nicht mehr so ursprünglich wie die von Arne. Ich habe Jan bis zuletzt geliebt und das wusste er auch! Ich bin saufroh darüber, weil ich weiß, dass ich im wichtigsten Punkt unserer Beziehung alles richtig gemacht habe und gegeben habe, was ich konnte. Aber die Liebe zu ihm war in den letzten Jahren vor allem eine Entscheidung. Sie war ein heiliger Trotz gegen die vielen nicht liebenswürdigen Seiten von ihm. Gegen seine schrägen Entscheidungen, seine Ich-Bezogenheit und die Faulheit. Gegen seine hohen Erwartungen an andere und die oft mangelhafte Bereitschaft, selbst zu geben. An so manchen Affront gegenüber uns, den er uns bewusst zugemutet hat. Und ein Trotz gegen seine eigene Hoffnungslosigkeit, der ich entgegen meiner eigenen Gefühle immer entgegengetreten bin.
Arne beschreibt in dem Buch seine vielen Hoffnungen und Zukunftsträume, die zusammen mit seiner Tochter gestorben sind. Das stelle ich mir noch viel schlimmer vor als die Situation, die wir jetzt erleben.
Meine Hoffnungen in eine gute Zukunft waren schon in Jans Pubertät Stück für Stück gedämpft worden. Er konnte sich so schwer auf Systeme und Vereinbarungen einlassen, die eine Gesellschaft nun mal braucht, auch eine Familie. "Er muss seinen Weg finden", haben wir immer gesagt, und das stimmte natürlich. Und Eltern sind die letzten, die so eine Hoffnung aufgeben dürfen, also errangen wir sie immer wieder neu. Aber es war schon nicht mehr natürliche Flow des Lebens, dem wir staunend zuschauen dürften. Stattdessen wurde es mit der Zeit immer unklarer, wie er eigentlich seinen Weg finden könnte, wie dieser überhaupt aussehen würde.
Die Hoffnung blieb, dass er sich nach dem Abi auf seine Interessen spezialisieren könnte, aber da machte die Depression einen Strich durch die Rechnung. Sein eh schon sehr selektiv ausgeprägter Antrieb verkümmerte weiter und erholte sich kaum.
Die Bereitschaft war da, ihn zu unterstützen und die Krankheit mitzutragen. Aber er übernahm nur wenig Verantwortung für sich selbst, nahm kaum Rat an, wusste aber gleichzeitig zu benennen, was andere zu tun hätten. Letztendlich hatte er sich durch seinen Wegzug nach Bayreuth mitten in der depressiven Phase mehr oder weniger bewusst unserem Einfluss entzogen.
Beim Schreiben empfinde ich eine Trauer, die bereits vor Jahren begann. Ein stückweises Abschiednehmen von Elternträumen, dass das Kind einen guten Weg finden würde. Der Verlust von wichtigen Beziehungsebenen. Das faktische Scheitern der intensiven Bemühungen, Augenhöhe und Partnerschaftlichkeit herzustellen. Den Sohn mit 18, 19, 20 in die Selbständigkeit zu entlassen – aber wie, wenn die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu fehlen scheint?
Trauer über den Verlust eines Teils der Person, die Jan gewesen war. Ein wenig blitzte manchmal noch auf, von seinem Humor, seinem Wissen, seiner Kreativität. Aber einen Teil von ihm haben wir schon vor drei Jahren verloren und vergeblich gehofft, ihn wiederzufinden.
Ich glaube, auch Jan hat einen Teil von sich selbst verloren. Seine Suche hat er nicht mehr vollenden können.