Jan, du fehlst uns!

Erinnerungen an die Zeit mit Jan

6. Januar 2019

Heiter bis wolkig

Es geht uns immer wieder unterschiedlich.

Im Grunde genommen bin ich häufig recht gut drauf. Das heißt, der Alltag und das Leben fühlen sich relativ normal an, emotional ist nur wenig Aufwühlendes oder Bedrückendes zu spüren und ich kann mich auf Gespräche und Aktionen einlassen und konzentrieren. Aber auch dann merke ich, dass alles langsamer geht (bzw. langsamer gehen sollte). Ich brauche Pausen, schlafe nachts viel und brauche mittags ein weiteres Schläfchen. Gespräche sind schön, z. B. heute nach dem Gottesdienst, aber nach einer Zeit wird es richtig anstrengend und mein Hirn vernebelt. So als ob man die ganze Zeit Sand durch einen Trichter laufen lässt und auf einmal verklumpt der Sand und es rieselt nix mehr.

Schön ist auch, dass wir in letzter Zeit einige Freunde getroffen haben und entspannte Abende hatten. Wir konnten über vieles reden, am Silvesterabend haben gar nicht über Jans Tod oder unsere Trauer gesprochen – es gab einfach genügend andere Themen, auch bei den anderen. Schön, dass das auch gut geht.

Der Austausch mit anderen über Trauererfahrungen tut auch immer mal wieder gut, wenn es nicht zu viel wird. Es hilft mir, diese dumpfen, drückenden Gefühle der Trauer einzuordnen, die auch andere gut kennen.

Das ist nämlich die andere Seite: Von einem Tag auf den anderen ist diese drückende Trauer plötzlich da. Körperlich spürbar in der Brust, gleichzeitig seelisch ganzheitlich da, aber kaum konkret festzumachen. Das frisst Energie, Antrieb und Freude. Es fühlt sich an wie dieser dunkle, schwere Schatten, von dem an schweren Depressionen Erkrankte berichten. Das ist dieser tiefe Teil der Trauer, den ich in den ersten zwei bis drei Wochen gar nicht so wahrgenommen habe, weil er vom Schock und auch von den Anforderungen der Beerdigung usw. überdeckt wurde.

Gut, dass ich von anderen Trauernden auch diese Erfahrungen höre und meine Gefühle so gut einordnen kann. Es ist keine eigenständige Depression, sondern einfach Trauer (was heißt hier einfach...). Sie wird wohl immer mal wiederkommen, mal stärker, länger, mal schwächer oder kürzer. Die Ausschläge werden weniger werden, aber sie wird mich wohl noch lange, eigentlich immer begleiten. Ich kann jetzt noch gar nicht absehen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, an dem ich von mir sagen kann: ich habe es jetzt unter die Füße bekommen.

Ja, ich will mich weiterhin dieser Trauer und auch ihren verschiedenen Facetten stellen. Gleichzeitig will ich aber den belastenden Gefühlen nicht unnötiges Futter geben oder in Gedanken darum kreisen. Wieder mal so eine Gratwanderung, zu der es noch keine fertige Karte gibt.

Mich der Trauer zu stellen heißt für mich auch, in diesen stärker bedrückten Zeiten Erinnerungen zuzulassen, die schmerzen. Seit dem Jahreswechsel denke ich öfter auch an Jans erste Lebenshälfte zurück, die Baby-, Kleinkind- und Grundschulzeit. Erst dadurch wächst in mir das Bewusstsein zusammen, dass der Gestorbene auch dieses süße, quirlige, besondere kleine Kind war. Dieser wissbegierige, neunmalkluge Kindergartenjunge, der so manche Erwachsenengruppe zum Staunen oder Lachen bringen konnte. In ihm hatten wir viel Zukunft gesehen, und die ist jetzt gestorben. Das ist nicht leicht und sticht im Herzen. Aber es ist auch nicht zu schlimm. Ich bin dankbar, dass ich damit wieder eine Facette mehr in das wandelbare Bild meiner trauernden Erinnerungen einbauen kann.

Teile dieses Bildes gehen manchmal auch wieder unter. Letzte Woche hatte ich drei solcher schweren Tage und am dritten Tag erstand in mir plötzlich ein Gedanke wieder auf, der mir schon oft geholfen hat, aber an Kraft verloren hatte: Jan geht es jetzt gut. Er ist bei Gott! Alle Zweifel, Sorgen, Herausforderungen; alle Depression, Identitätsunsicherheiten, Zukunftsfragen sind Schnee von gestern, spielen keine Rolle mehr! Auch für mich, für uns als Familie ist die Frage erledigt, wie es Jan geht, und wann die nächste Katastrophe kommen könnte, wo wir Verantwortung abgeben dürfen/sollen/müssen und wo wir vielleicht doch helfen können. So vieles darf bei allen Beteiligten jetzt zur Ruhe kommen!

"Jan, ich lasse dich gehen!" war eine ganz wichtige Entscheidung, die ich zwei Tage nach der Beerdigung getroffen hatte. Damals hat der eben geschilderte Gedanke zum ersten Mal in mir wirklich Raum eingenommen, und auch damals hat er meine Seele befreit. Auch jetzt wieder bin ich dankbar, zu dieser Erkenntnis neu durchgedrungen zu sein, auch im Herzen. Die Trauer über den menschlichen Verlust, die abgeschnittene Bindung zu meinem Erstgeborenen, sie bleibt. Aber ihr tritt diese starke Hoffnung, diese schöne Wahrheit ebenbürtig entgegen. Der Tod hat die Macht verloren. Halleluja!

Vor zwei Tagen kam mir die Frage auf, ob ich mir von Gott das Wunder wünschen würde, dass Jan wieder aufersteht. Und ich dachte sofort: nein, eigentlich ist doch jetzt viel besser, das würde ich ihm nicht wünschen. Voll krass, dieser Gedanke. Vorher hätte ich Jan nie den Tod gewünscht. (Wobei, solche Gedankenansätze waren manchmal da, aber die denkt man ja nie zu Ende.) Und jetzt habe ich den Frieden darüber, ihn ihm zu gönnen. Aber es ist ja eigentlich nicht der Tod, den ich ihm gönne, sondern das Ewige Leben nach dem Tod!