Nach einem Jahr (2) – Der Blick zurück...
[Der Jahrestag – Teil 2]
Für die Zeit hier zu Hause, während die Kinder noch in der Schule sind, wollten wir uns die Zeit nehmen, um nachzudenken und nachzufühlen; zu erinnern, vielleicht auch zu trauern. Wie so oft weiß ich ja vorher nicht, was sich ergeben wird. In den letzten Monaten sind meine emotionalen Reaktionen nie über eine leichte Feuchtigkeit in den Augen hinausgekommen. Und immer mal wieder fragte ich mich, ob das ein Zeichen der guten Verarbeitung ist, oder ob da noch etwas schlummert, das noch an die Oberfläche soll. Dieser Tag heute schien mir ein geeigneter Tag, um das herauszufinden, vielleicht auch herauszufordern. Der Anlass dazu ist ohne Zweifel da, und die Zeit habe ich mir bewusst dafür eingerichtet.
Für solche Momente nehme ich immer gerne in Anspruch, dass Gott sich als ganz persönlicher Vater anbietet. Jesus hat ihnen manchmal sogar als "abba" angesprochen, was im Deutschen wohl am ehesten in dem Wort Papa seine Entsprechung hat. Es tut mir gut, dass ich mir das innerlich so vorstellen kann, als würde ich wie ein Kind bei meinem Papa auf den Schoß krabbeln und er nimmt mich in seine Arme. So gehalten und getröstet kann ich mich ohne Furcht auf das Einlassen, was auch immer mir bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit begegnen wird.
Meine Erinnerungen an Jan gehen in der letzten Zeit häufig viel weiter zurück als in der Anfangszeit nach seinem Tod. Damals waren seine letzten Monate und Jahre noch sehr dominant, die von Schwierigkeiten, seiner Depression und seinem Wegzug geprägt waren. Jetzt dachte ich an einige Situationen zurück, die in seiner Kindheit und Jugendzeit lagen. Auch an den Moment seiner Geburt, als ich zwischen den letzten Presswehen ein bisschen seinem Kopf erkennen konnte, der aber sehr spitz und gequetscht aussah. Ich glaube, das war der erste Moment, wo ich irgendwie Angst oder Sorge um ihn empfunden habe. Aber wenige Sekunden später war dann alles gelöst, als er da war und bei Sonia auf dem Bauch lag. Mit seiner roten, feuchten, faltigen Haut und seinen dünnen Fingerchen. Auch das war ein ganz tiefer Einschnitt in unser Leben. zum ersten Mal waren wir nicht mehr nur für uns selbst verantwortlich, sondern für ein kleines, hilfloses Kind. Über 22 Jahre ist das jetzt her. Das hat sich zwar gewandelt. Doch immer noch tragen wir Verantwortung für unsere Kinder, wenn auch bei weitem nicht mehr so viel und intensiv. Wie das wohl in ein paar Jahren sein wird? Das ist ein Thema für einen anderen Blog, „Jörgs Midlife-Crisis“ oder so.
Aber auch aus seiner Kindheit und Jugendzeit waren viele schöne Erinnerungen dabei. Ich habe mich an seine vielen, besonderen Fähigkeiten erinnert. Sein enormes Erinnerungs- und Denkvermögen in den Bereichen, die ihn interessierten. Seinen trockenen Humor. Sein intensives Klavierspiel – wie viele Filmmusiken konnte er auswendig reproduzieren – nur vom Hören. Seine Fähigkeiten, groß zu denken. Naja, dazu gehörte aber auch immer die Traurigkeit, dass er vieles davon nicht umsetzen konnte. Er hat sich bestimmt oft unfähig gefühlt, und das bestimmt auch immer wieder von uns und anderen vermittelt bekommen. Das tut mir sehr leid. zum einen, dass ich selbst einen gewissen Anteil daran habe, was mir aber erst jetzt wirklich klar wird. Zum anderen aber einfach, dass er sich dabei gefühlt haben muss, wie er sich gefühlt hat. Das sollte kein Mensch so viel erleben müssen. Er hätte viel öfter hören und erleben sollen, dass er einfach nur geliebt ist. Dass er so okay ist, wie er ist. Und das alles das Jan ist und zu ihm gehört. Wie gut wäre es gewesen, wenn er viel öfter die Gelegenheit gehabt hätte, das zu tun, was ihm einfach liegt. Wo er in Flow kommt, und wo er gute Ergebnisse erzielt. Leider konnte er das oft nicht selbst finden. Auch unsere Versuche, ihn zu unterstützen – sei es mit Angeboten bei der Junior Uni, der Schach AG in der Schule oder auch in Kinder- oder Jugendgruppen. Leider passte vieles für ihn nicht, zumindest nicht auf Dauer.Das und noch vieles mehr erzeugte schon eine gewisse Melancholie in mir. Eine Traurigkeit über das, was nicht gut war. Und auch Traurigkeit über das, was gut war, aber jetzt endgültig vorbei ist. Doch es löste nicht die Trauer und die Tränen aus, die ich erwartet, vielleicht auch erhofft hatte.
Trotzdem – ich bin dankbar, dass ich diese intensiven Erinnerungen zulassen, mich ihnen stellen kann und es mir ausreichend gut damit geht. Und ich bin froh, dass sich in den letzten 12 Monaten scheinbar wirklich vieles sortiert hat und mir – wie mir scheint – einen gesunden und offenen Umgang damit ermöglicht.
Diese zweite Etappe war emotional schon intensiv. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich mein Herz und meine Gedanken noch einmal weiter öffnen konnte als sonst in der letzten Zeit, und dabei nichts Außergewöhnliches, besonders Schweres oder Unverarbeitetes zum Vorschein kam.