Das Leben geht weiter
Langsam gehen mir die Gedanken aus.
Im Kalender ist alles abgehakt. Organisatorisch bis auf Papierkram nichts mehr zu tun. Die erste emotionale Rundreise ist nach der Beerdigung zu Ende. Und jetzt?
Erst mal zur Ruhe kommen. Das tun wir seit gestern. Vormittags konnten wir bei Sonnenschein das Grab besuchen. Das Blumenherz und die Kränze wurden schön arrangiert, und ein Holzkreuz trägt Jans Namen. Es kann stehen bleiben, bis es in einigen Monaten durch eine Grabplatte ersetzt wird.
Emotional kehrt etwas Friede ein. Äußerlich haben wir Abschied genommen, Jans Körper liegt jetzt in der Erde und ist dem Verfall preisgegeben. Verwesung, Zersetzung, biochemische Umwandlung. Aber der Körper ist auch nicht mehr wichtig. Interessant, dass Gott das in der Natur bereits so angelegt hat, dass ein Körper - so wichtig und unantastbar er zu Lebzeiten ist - zu 100 % recycelt wird. Er hat ausgedient, ist nicht mehr wichtig. Diese Erkenntnis hilft mir, die irdische Seite des Todes anzunehmen und die äußere Gestalt jetzt gehen zu lassen. Das Grab ist vor allem für die Erinnerung da.
Die Erinnerung an den Menschen, die Person Jan. Sein Innerstes, sein Herz, seine Seele. Der Kern hinter seinem Verhalten, seinem Verstand und seiner Persönlichkeit; der ewig ist, unsterblich. Den essenziellen Teil von Jan, der Gegenstand meiner Liebe war. Und ist!
Zu Hause ist es schön, ruhig, aber nicht einsam. Gleichzeitig ist die Ruhe ungewohnt. Und jetzt? Draußen ist es grau und nass. Im Kopf viele Gedanken, die jetzt in Ruhe weitergedacht werden wollen. Feinschliff. Aber dieser Feinschliff ist gar nicht so leicht, vieles findet bleibt offen. Die einzelnen Teile passen noch nicht aneinander. Bei einem gekauften Puzzle sind alle Teile vorhanden, man muss nur lange genug suchen und probieren. Aber so ein Lebenspuzzle ist selbst lebendig, dynamisch. Die Teile sind gar nicht so viele, aber es ist meine Aufgabe, sie zu formen, bis sie passen. Kann man dabei etwas kaputt machen? Wenn ich die Trauer so lange drücke und knete, bis sie in die Hoffnung passt, geht mir dann etwas Wichtiges verloren?
Ich will nichts überstürzen. Und merke, dass ich Zeit brauche. In mich zu horchen, meine Gefühle wahr- und ernstzunehmen. Selber nachdenken, Hinweise und Erfahrungen anderer aufnehmen. Sonjas Gedanken bringen mich immer wieder selber weiter. Noch habe ich aber lange kein klares Bild in mir.
Ein unklares Bild habe ich aber schon. In einem Jahr möchte ich zurückblicken und sagen können, dass der Tod meines ältesten Sohnes zu mir und meinem, unserem Leben und zu unserer Familie dazugehört. Mit ihm haben wir das Wunder des ersten Babys erlebt, mit ihm haben wir 18 Jahre lang zu Hause gelebt und ihn beim Aufwachsen begleitet. Die letzten drei Jahre haben wir ihn in die Freiheit entlassen. Und zuletzt aus dem Leben. Es wird ein abgeschlossener Teil meines Lebens gewesen sein, intensiv und schön, der mich gehörig herausgefordert, stark geprägt und Wichtiges gelehrt hat.
Dieses Bild klingt gut. Es wird auch irgendwann so sein, da bin ich mir sicher. Aber noch bin ich das nicht, zumindest nicht ganz.
Wow, wo kommen plötzlich diese ganzen Gedanken her? Das Puzzeln hat begonnen.