Jan, du fehlst uns!

Erinnerungen an die Zeit mit Jan

21. November 2018

14:15 Uhr. Der Schock.

Ich sitze im Büro, mein Kollege Markus steht neben mir. Mein Handy klingelt.

"Ach, da ist Bayreuth, ich gehe mal ran." Markus wird heute früh weg sein, wünscht einen schönen Feierabend. Ich bin nicht schnell genug, also rufe ich Teresa sofort zurück. Besetzt. Drei mal. Mache mir keine Gedanken, Jan rief öfter vom Handy seiner Freundin an. Also schreibe ich ihr eine WhatsApp und arbeite weiter. Bald werde ich die letzten Unterlagen für die Ratssitzung morgen zusammengestellt haben, dann ist der Haushaltsplan endlich fertig, nach einem Dreivierteljahr Arbeit für die ganze Abteilung. Die letzten drei Wochen waren purer Stress, ich bin angespannt.

Wenige Minuten später klingelt mein Telefon erneut, jetzt ist es Sonjas Handynummer. Eine zittrige Stimme meldet sich. "Es ist etwas Schreckliches passiert. Jan ist tot!" Teresa hätte völlig entsetzt und aufgeregt angerufen und das mitgeteilt. "Bist du sicher? Hörte sich das überhaupt sinnvoll und schlüssig an?", frage ich Sonja. Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Ja, sie hätten gerade den Rettungsdienst gerufen und warteten. Auf dem Bett hätten sie ihn gefunden.

Sonja verabschiedet sich bald, will sofort nach Hause fahren. Bekommt nicht viel heraus. OK, ich fahre auch schnellstmöglich nach Hause.

Der Bus kommt erst in einer Viertelstunde. Also hastig die letzte Konzentration zusammengenommen, die Unterlagen gespeichert und Markus eine Mail geschrieben, wo was liegt und welchen Stand hat, mich kurz schriftlich entschuldigt, es sei dringend. Ich wollte mit keinem reden, ich hatte es eilig, und außerdem war ich mir nicht sicher, ob es wirklich stimmte. War Jan wirklich tot? Was konnte nur passiert sein?

15:10

Ich bin zu Hause. Tom und Micha hatte ich per WhatsApp angeschrieben, ob sie zu Hause sind, oder wann sie kommen. Micha war zum Glück schon da, Tom wollte im viertel nach da sein. Ein Glück, ich muss niemanden nach Hause zitieren.

Als ich die Treppe hochkomme, chillt Micha auf der Couch. Ich hänge die Jacke auf, Tom kommt pfeifend herein. Hi Papa, Hallo Tom, Hallo Michi. Ich versuche, noch recht normal zu klingen. In zwei Minuten werde ich es ihnen sagen.

Ich bitte Tom, kurz mit ins Wohnzimmer zu kommen. Wir setzen uns auf die Couch, die beiden schauen etwas verunsichert. "Ich muss euch etwas sagen." – "Ist etwas mit Jan?", fragt Micha. – "Wir haben vor einer Stunde einen Anruf bekommen. Jan ist tot!"

"Au scheiße" irgendwie so etwas sagt Micha, Tom erstarrt. Wirklich, echt, wie? All die Fragen rasen durch die Köpfe. Einige werden gestellt, andere sehe ich nur hinter den Stirnen kreisen. Keine Gefühlsausbrücke, dafür Betretenheit, Schock. Schnell kommt der Vorschlag, gemeinsam zu beten. Vielleicht ist das einfacher, als miteinander zu sprechen, denn wir wissen ja alle fast nichts.

Fünf Minuten später kommt Sonja die Tür herein. Als sie Micha sieht, bricht sie in Tränen aus und nimmt ihn in den Arm. Es ist das erste Mal, dass es aus einem von uns herausbricht. Wir nehmen uns alle vier in den Arm und stehen gemeinsam da, genießen die Nähe – aber spüren auch das unausgesprochene Entsetzen.

Ich weiß nicht, wie lange wir dasitzen und reden. Was raten wir den Kindern? Wie damit umgehen? Rückzug ist OK, weinen auch. Es nicht begreifen auch.

Geht es uns Erwachsenen nicht auch so? Wir haben diese schreckliche Nachricht gehört, aber alles findet nur innendrin statt. Wir haben nichts gesehen, können nichts tun. Das Begreifen geht nur langsam.

Am Nachmittag

Wir gehen eine Etage nach unten, zu meinen Schwiegereltern und bringen ihnen die Nachricht. Sofortiges Entsetzen. Auch hier überschlagen sich die Gedanken und Gefühle. Aber auch tröstliche Gedanken kommen auf. Vieles war in der letzten Zeit nicht einfach gewesen für Jan, jetzt geht es ihm gut bei Gott. Die ungeklärte Todesursache nagt auch hier. Hat er sich etwas angetan? Wir wissen es nicht...

Ich habe keine Ahnung, wie meine Eltern die Todesnachricht auffassen werden. Lieber sprechen wir zuerst mit Marc und Jutta. Zum Glück sind beide schon zuhause. Ich bitte Marc, den Lautsprecher am Telefon einzuschalten. "Wir haben heute Mittag einen Anruf bekommen. Jan ist tot!" Immer wieder dieselbe Wahrheit, so kurz, ungeschminkt, unfassbar. "Nein! Wie schrecklich". Sie kommen sofort bei uns vorbei, wir reden ein wenig. Nach einiger Zeit besuchen wir meine Eltern. "Bitte setzt euch erst mal hin", sage ich ihnen. Ist dieser Satz nicht genau so schlimm wie die eigentliche Nachricht? Auch sie sind geschockt, natürlich. Immer wieder Fragen, die wir selber nicht beantworten können. Traurig lassen wir sie nach einer knappen Stunde zurück.

Der Abend

Wir sind wieder zuhause, Hunger hat keiner so richtig. Manchmal Tränen. Wir schreiben die erste E-Mail an unsere Freunde, die schon in den letzten Monaten für uns da waren, wenn wir sie brauchten.

Wir vier teilen viele Erinnerungen miteinander und tasten uns heran. Wie redet man über einen Toten, der einem doch so nahe sein sollte, aber doch so weit weg schien, in Bayreuth? Der tot ist, aber doch untrennbar zu unserer Familie gehört? Dessen Fehlen nicht sichtbar ist, dafür aber unabänderlich? Wir merken, wir werden freier, das tut gut. Es gibt keine Tabus und jeder darf erzählen, was er fühlt, oder eben auch nicht. Ich bin kein schlechter Vater, dass ich gerade nicht weinen kann. Tom und Micha sind keine schlechten Brüder.

Irgendwann wird es aus uns herausbrechen, da sind wir uns sicher. Irgendwie freue ich mich sogar darauf, denn ich weiß, es wird guttun und mir helfen beim Verarbeiten in Kopf und Herz. Jetzt ist da nur dieser Stein in der Brust.

Kleine Entlastung

Später sprechen wir mit dem Polizisten vom Kriminal-Dauerdienst, der vorort war. Für uns beruhigend: es war ein Unfall. Kein Selbstmord, keine Fremdeinwirkung. Er kann uns die Todesursache genauer erklären. Er ist sehr einfühlsam, erklärt die nächsten formalen Schritte und beantwortet viele Fragen. Der Fall liegt klar, er hat mit der zuständigen Staatsanwältin bereits gesprochen. Eine Obduktion ist nicht notwendig. Jan wird bald freigegeben werden können, dann kann die Überführung erfolgen.

All diese Worte, wie im Fernsehen. Doch dieses Mal spiele ich die Hauptrolle.

Auch wird jetzt klar: wir müssen nicht nach Bayreuth, dort können wir nichts tun. Sein WG-Zimmer müssen wir auch erst in den nächsten Wochen räumen, das dürfen wir vorerst vergessen.

Wie kann Gott so etwas zulassen? Warum hat er nichts unternommen, Jan bewahrt, worum wir ihn doch so oft gebeten haben? Zum Glück quälen uns solche Fragen nicht. Stattdessen sind wir froh, jeder auf seine Art, dass Gott auch und gerade jetzt bei uns ist. Wir spüren die Sicherheit, dass uns diese Situation nicht umwerfen wird. "Im Finsteren Tal ist Gott bei uns. Aber finstere Täler sind nicht dazu da, dort Zelte aufzuschlagen." Das hat vor kurzem mal jemand so gesagt. Kluger Spruch, dachte ich damals. "Amen!", denke ich heute!

Ich glaube, Gott hat uns in den letzten Monaten gut vorbereitet. Trotzdem habe ich Bammel vor den nächsten Tagen.